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Chronische Schmerzen

ohne körperlich-organischen Befund

 

Schmerzen ohne organischen Befund. An chronischen Schmerzen leiden nach neueren Untersuchungen 40% der Erwachsenen. Mehr als 25% der Bevölkerung geben schwere, 3,5% gar schwerste chronische Schmerzen an (Chrubasik et al., Eur. J. Anaesthesiol. 15:397, 1998). An chronischen Schmerzen ohne erklärenden organischen Befund leiden etwa 10% aller Erwachsenen (Croft et al. J. Rheumatol 20:710, 1993; Elliot et al., Lancet 354:1248, 1999). Diese sogenannten somatoformen Schmerzsyndrome treten meist als Rückenschmerzen, chronische Unterleibsschmerzen bei der Frau sowie als orofaziale (Gesicht- und Kiefer-) Schmerzen auf.

Auch wenn alle körperlichen Untersuchungen ohne Befund blieben, bestehen somatoforme Schmerzpatienten meistens auf einer organischen Attribuierung. Untersuchungen zeigen, dass sich bei mindestens 30% der somatoformen Patienten gravierende Störungen des Arzt-Patienten-Verhältnisses ergeben (Allaz et al., Gen. Hosp. Psychiat. 20:91, 1998). Aus dieser Sackgasse heraushelfen können neuere Erkenntnisse über das neurobiologische Schmerzgedächtnis. Das Wissen, dass frühere (Schmerz-) Erfahrungen eine vom Bewusstsein nicht kontrollierte Gedächtnisspur hinterlassen, die zu einem späteren Zeitpunkt zur Quelle von Körperschmerzen werden kann, dürfte nicht nur das Verständnis somatoformer Schmerzen, sondern auch die Verständigung zwischen Arzt und Patient verbessern.

"Schmerzgedächtnis". Die Neurobiologen Hertha Flor und Niels Birbaumer konnten zeigen, dass anhaltende Schmerzen mit Veränderungen der Ereignis-korrelierten Potentiale (EKP) sowie der magnet-enzephalographisch ableitbaren Feldpotentiale (MEG) über somato- sensorischen Feldern der Hirnrinde einhergehen (Birbaumer et al., The Corticalization of Chromic Pain, in: Advances in Pain Research, pp.331-343. Raven Press, 1995). Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen fanden sie nach Stimulation mit Reizen unterhalb und oberhalb der Schmerzschwelle im Vergleich zu Kontrollpersonen eine Vergrößerung der durch Schmerz evozierten Ereignis-korrelierten Potentiale (EKP), wenn der Reiz innerhalb der Schmerzzone der Patienten appliziert wurde. Dabei handelt es sich um ein spezifisch mit der klinischen Symptomatik verbundenes Phänomen. Die Potentialvergrößerung zeigte sich sowohl bei den frühen, vor der bewussten Wahrnehmung liegenden (50-150 msec) als auch bei den späteren Potentialen (200-300 msec), welche die evaluativ-kognitive Bewertung wiederspiegeln. Diesen Beobachtungen liegen Veränderungen der neuronalen Genexpression und der synaptischen Feinstruktur zugrunde, die durch den Schmerz-Input induziert wurden.

"Gelernter Schmerz". Treten körperliche Schmerzen in einem bestimmten situativen Kontext auf, so können -nach einer "Lernperiode"- Schmerzen alleine durch den situativen Kontext (ohne Schmerzreiz) ausgelöst werden (Birbaumer et al, Zitat w.o.). Falls Schmerzgedächtnis und "gelernter" Schmerz klinisch eine Rolle spielen, müssten sich bei Patienten mit somatoformen Schmerzen frühere Traumatisierungen nachweisen lassen. Mehr als 30 in qualifizierten Journalen publizierte neuere Studien belegen einen erstaunlichen Zusammenhang zwischen traumatisierenden Erfahrungen und späterer Schmerzerkrankung. Auch eine von Prof. Joachim Bauer an der Abteilung Psychosomatische Medizin in Freiburg durchgeführte Studie mit somatoformen Schmerzpatienten zeigte, dass diese -verglichen mit Personen ohne somatoforme Schmerzen- signifkant mehr körperliche Schmerzerfahrungen in ihrer Vorgeschichte erlitten hatten (vor allem Unfälle, schmerzhafte ärztliche Eingriffe, aber auch Gewalt seitens anderer Menschen).

Häufigkeit von Gewalterfahrungen bei Schmerzpatienten. Massive Gewalterfahrungen in der Vorgeschichte finden sich -je nach Studie- bei 35% bis über 50% der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen (Linton, Pain 73:47, 1997; Walling et al., Obstetrics Gynecol. 84:193, 1994). Gewalterfahrungen beschreiben mehrere Studien auch für Patienten mit chronischen orofazialen Schmerzen im Gesichts- und Kieferbereich (45-50%) (Goldberg et al., Disab. Rehabil. 21: 23, 1999; Fillingim et al., J. Orofacial Pain 11:48, 1997), für Fibromyalgie-Patienten (55-60%)(McBeth et al., Arthr. Rheumat. 42:1397, 1999; Alexander et al., Arthr. Care Res. 11: 102, 1998) sowie für Patientinnen mit chronischen Unterleibsschmerzen (über 50%)( Walker et al., Am. J. Psychiat. 149:534, 1992; Toomey et al., Pain 53:105, 1993; Walker et al., Psychosomatics 36:531, 1995; Collet et al., Br. J. Obstet. Gynaecol. 105:87, 1998)

Bei einer Untergruppe somatoformer Schmerzpatienten sind auch iatrogene verursachte Schmerzerfahrungen als Ausgangspunkt chronischer Schmerzen in Betracht zu ziehen: Über 20% aller chronischen Schmerzpatienten datieren den Beginn auf einen chirurgischen Eingriff (Crombie et al., Pain 76:167, 1998). Ohne ausreichende Analgesie vorgenommene chirurgische oder zahnärztliche Eingriffe können zum Ausgangspunkt chronischer Schmerzen werden. Vor allem bei bereits zuvor vorhandener Schmerzdisposition kann ein chirurgischer Eingriff eine Schmerzerkrankung auslösen.

Gewalterfahrungen erzeugen chronischen Schmerz. Zusammenfassend sprechen neueste Untersuchungen dafür, dass körperliche Misshandlungen einen erheblichen Beitrag zur Entstehung späterer chronischer Schmerzerkrankungen leisten. Dass ein -der bewussten Kontrolle entzogenes- neurobiologisches Schmerzgedächtnis in späteren Belastungs-situationen zum Ausgangspunkt chronischer Schmerzen werden kann, sollte bei der Behandlung von Schmerzpatienten bedacht werden. Vor allem sollten Schmerzpatienten keinen therapeutischen Prozeduren unterzogen werden, die ihrerseits schmerzhaft sind.

Psychotherapie kann chronischen Schmerz heilen. Da die Exploration von Traumen außerhalb einer psychotherapeutischen Situation die Gefühle der Betroffenen sehr aufwühlen und daher eine Re-Traumatisierung zur Folge haben kann, sollte ein gezielte Exploration von Nicht-Psychotherapeuten nur mit äußerster Vorsicht vorgenommen oder unterlassen werden. Der organisch behandelnde Arzt sollte seinem Schmerzpatienten mitteilen, dass schmerzhafte Vorerfahrungen einen Beitrag zu Schmerzerkrankungen leisten können. Aufgrund der positiven Datenlage zur Wirksamkeit einer psychotherapeutischer Behandlung bei chronischen Schmerzen (Perlman, J. Am. Acad. Psychoanal. 24:257,1996; Kilchenstein, Contemp. Psychoanal. 34:, 223, 1998; Whale, Psychoanal. Psychother. 6:61, 1992) sollte Schmerzpatienten, die eine Psychotherapie-Motivation erkennen lassen, eine Mitbehandlung durch einen Psychotherapeuten angeboten werden.

© Joachim Bauer

 

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