Dissoziative Störungen und Borderline-Störungen
Wie hält die Seele Gewalt aus? Wie geht die Seele mit Erlebnissen um, die mit unerträglichem körperlichem oder seelischem Schmerz verbunden sind? Erinnerungen an solche Erfahrungen können vom Gehirn nicht ungeschehen gemacht oder ausgelöscht werden. Sie können aber für das Bewusstsein (also für den bewusst erlebten Teil der Seele) derart unerträglich sein, dass sie aus dem bewussten Erleben ausgeschlossen und in "Abstellkammern" im Bereich des Unbewussten gleichsam "weggeschlossen" werden. Die dorthin verdrängten Erinnerungen können eine erhebliche Kraft entfalten und -gleichsam in ihren Abstellkammern rumpelnd- zu erheblichen Störungen des bewussten, "normalen" Seelenlebens führen: Mögliche Folgen sind 1. Die Posttraumatische Belastungsstörung, 2. Dissoziative Störungen und 3. Die Borderline-Störung. Posttraumatische Belastungsstörung. Unerwartet eingetretene Gefahrensituationen, Unfälle oder Katastrophen, die mit großer seelischer Angst oder körperlichen Verletzungen verbunden waren, können eine "Posttraumatische Belastungsstörung" (PTBS, amerikanisch PTSD) zur Folge haben, und zwar sowohl bei den direkt betroffenen Opfern als auch bei den Zeugen. Die Symptome einer PTBS/PTSD sind: Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit, Angstzustände, Konzentrationsstörungen, plötzliches Auftauchen der Unfallbilder oder Unfallgeräusche vor dem "Inneren Auge" bzw. "Inneren Ohr" (sogenannte "Intrusionen") sowie Albträume bei Nacht. Diese Symptome können zum Teil erst einige Zeit (z. B. Wochen) nach dem Unfallereignis einsetzen. Die PTBS/PTSD kann, falls keine Behandlung erfolgt, Monate oder Jahre, manchmal Jahrzehnte anhalten. Von der PTBS/PTSD, die in den meisten Fällen nach einem einmaligen Unfall- oder Katastrophenereignis auftritt, betroffen sind häufig Unfallopfer, Unfallzeugen, Vergewaltigungsopfer, Opfer von Überfällen (z. B. Bankangestellte) und Kriegsteilnehmer. Die Behandlung besteht in einer speziellen Form von Psychotherapie, die sich von "normaler" Psychotherapie durch einige Besonderheiten unterscheidet (So dürfen z. B. Verhaltenstherapeuten mit Traumapatienten keine übliche Expositionstherapie machen, sondern müssen nach einer modifizierten Methode vorgehen. Aber auch für psychodynamisch/ tiefenpsychologisch arbeitende Psychotherapeuten gelten Besonderheiten: Traumapatienten bzw. -patientinnen sollen nicht im Liegen behandelt werden, auch tiefenpsychologische Deutungen der Symptome sind bei diesen Patientinnen i. d. R. nicht hilfreich). Dissoziative Störungen. Dissoziative Störungen lassen sich bei über 6% der Allgemeinbevölkerung finden (Mulder et al., Am. J. Psychiat. 155:806, 1998). Die Symptome sind amnestische (Erinnerungs-) Lücken für selektive Erlebnisse oder Handlungen, situativ ausgelöste Abwesenheits- oder Trancezustände, extremes Tagträumen, gestörtes Identitätserleben, intermittierende Depersonalisations- und Derealisationsgefühle, in einigen Fällen auch passagere pseudo-neurologische Symptome (Lähmungen, Aphonien oder Dyskinesien ohne organischen Befund). Gegenstand der Amnesie (Erinnerungslücke) müssen bei einer dissoziativen Störung nicht (bzw. nicht ausschließlich) jene traumatischen Erlebnisse sein, von denen her die Störung ihren Ausgang nahm! Von Amnesie betroffen sein können vielmehr auch aktuelle Situationen im Alltag der Betroffenen, nicht selten Handlungen, welche die Patienten selbst begehen. Zur objektiven Erfassung und zur Gewichtung der Ausprägungsschwere der dissoziativen Störung wurden spezifische Inventare, wie die Dissociative Experience Scale oder die Child Dissociative Checklist, entwickelt. Kern der Störung ist die Abspaltung bestimmter Erinnerungen bzw. bestimmter Vorstellungen vom Bewusstsein, entweder durch Amnesie, oder durch eine Veränderung des Bewusstseins selbst (Tagträumen, Absencen, Trance, in Extremfällen Fugue-Zustände), um damit Erlebnisinhalte zu vermeiden. Gewalterfahrungen als Ursache dissoziativer Störungen. Alleine im vergangenen Jahrzehnt wurden mehr als fünfzehn, durchweg einwandfrei kontrollierte Studien an z. T. sehr großen Populationen durchgeführt und in qualifizierten Journalen publiziert, die einen bedrückenden Zusammenhang zwischen -vorwiegend kindlichen- Gewalterfahrungen und dem Entstehen dissoziativer Störungen zeigen. Eine besondere pathogene Rolle spielt hier der sexuelle Missbrauch im Kindesalter (z. B. Lange et al., J. Nerv. Ment. Dis 187:150, 1999; Kaplan et al., Compr. Psychiat. 39: 271, 1998; Farley et al., Women Health 25:33, 1997). Eine weitere dieser Studien wurde am National Institute of Mental Health (NIMH) durchgeführt (Putnam et al., Child Abuse Negl. 19:645, 1995). Ein bedeutsames Ergebnis ergab sich aus einer differenzierenden Studie über die Folgen von sexuellem Missbrauch im Kindes- versus Erwachsenenalter (Badura et al., Obstetrics Gynecol. 90:405, 1997): Frauen, die "nur" im Erwachsenenalter vergewaltigt worden waren, litten vor allem an Posttraumatischen Stresserkrankungen. Lag sexueller Missbrauch im Kindesalter (mit oder ohne zusätzliche Vergewaltigung im Erwachsenenalter) vor, dann hatte sich regelmäßig eine dissoziative Störung gebildet. Nicht nur sexuelle, auch allgemein-körperliche Gewalterfahrungen (körperliche Gewalt, Züchtigungen bei Kindern etc.) spielen für die Entstehung dissoziativer Störungen eine entscheidende Rolle. Dieser Befund zeigte sich neben einer kürzlich in Heidelberg von Resch u. Mitarbeitern an 198 Jugendlichen durchgeführten Studie (Brunner et al., J. Nerv. Ment. Dis. 188:71, 2000) auch in einer Reihe früherer Studien (z. B. Irwin, J. Psychol. 133:157, 1999; Ferguson et al., Child Abuse Negl. 21:941, 1997). Während Mulder u. Koll. in ihrer über 1000 Personen umfassenden Studie bei körperlicher Gewalt im Kindesalter ein 5-fach erhöhtes, bei sexueller Gewalt "nur" ein 2,5-fach erhöhtes Risiko für dissoziative Störungen errechneten (Am J. Psychiat. 155:806, 1998), sehen andere Studien die pathogenetische Bedeutung sexueller Gewalt an erster Stelle (Teicher et al., J. Neuropsychiat. Clin. Neurosci. 5:301, 1993; Ross et al., Can. J. Psychiat. 36:97, 1991). Verdrängte Erinnerungen behalten ihre krankheitserzeugende Kraft. Oft wird bezweifelt, dass aus dem Bewusstsein verdrängte Erlebnis-Inhalte wirksam bleiben könnten. Dass sie es tatsächlich sind, zeigen folgende interessante Beobachtungen: Abgesehen von dissoziativen Symptomen können sich nach Trauma-Erfahrungen weitere seelische Störungen entwickeln, insbesondere Schmerzen ohne organischen Befund, chronische Suizidalität, Angststörungen und depressive Störungen (Zlotnik et al., J. Traum. Stress 9:195-205, 1996; Singer et al., JAMA 273:477, 1995). Für die Ausbildung dieser zusätzlichen psychiatrischen Störungen stellt die dissoziative Störung jedoch das "Einfallstor" dar, d.h., die Ausbildung einer dissoziativen Störung nach Traumatisierung ist eine Voraussetzung und zugleich Prädiktor für die Ausbildung weiterer psychiatrischer Störungen (Ross-Gower et al., Br. J. Clin. Psychol. 37: 313, 1998; Kaplan et al., Compr. Psychiat. 39: 271, 1998; Mulder et al., Am. J. Psychiat. 155:806, 1998; siehe auch Narang et al., Child Abuse Negl. 24:653,2000; Egeland et al., Child Abuse Negl. 20:1123, 1996). Dies lässt darauf schließen, dass aufgrund der Dissoziation verdrängtes, vom Bewusstsein abgespaltenes Erleben als psychiatrische Sekundär-Erkrankung, quasi durch die Hintertür, zurückkehrt. Das Borderline- Syndrom: eine Störung mit emotionaler Instabilität. Bei der Borderline- Störung handelt es sich um eine erst in den letzten 20- 30 Jahren voll erkannte seelische Gesundheitsstörung, bei der es zu nicht vorhersehbaren Schwankungen der Gefühle, insbesondere zu einem rapiden Wechsel zwischen Anziehung und Hass gegenüber anderen Menschen kommt. Das Ich-Gefühl ist nicht kontinuierlich gleich, sondern instabil. Borderline- Patienten verstehen später oft nicht, warum sie in einer früheren Situation etwas so gemacht haben wie sie es gemacht haben. Borderline-Patienten leiden an Phasen mit nicht aushaltbaren innerseelischen Spannungszuständen. Sie können Einsamkeit nicht ertragen, halten aber auch Beziehungen zu anderen Menschen auf Dauer nicht aus, so dass sie zwischen Anziehung und Ablehnung andauern instabil hin- und herschwanken. Nicht aushaltbare Spannungszustände. Eine besondere Qual für Borderline- Patienten sind phasenweise auftretende, nicht aushaltbare innere Spannungszustände: Um die innere Spannung abzubauen, müssen sich weibliche Borderline-Patienten selbst verletzen (meist Ritzen der eigenen Haut), bei männlichen Borderline-Patienten kommt es meistens zu Impulsdurchbrüchen nach außen (z. B. Gewalt gegen Andere oder Regelverletzungen). Viele Borderline-Patienten greifen, um ihre nicht aushaltbaren inneren Spannungszustände zu "behandeln", auch zu Drogen (Alkohol, andere Drogen) Unfähigkeit zu Beziehungen wegen früheren Gewalterfahrungen. Bei den Borderline- Patienten handelt es sich keineswegs um "viele, die sich selbst an den Rand der Gesellschaft drängen" (wie der SPIEGEL schrieb). Das Gegenteil ist der Fall: diese Menschen wurden meist schwer traumatisiert. Mehrere wissenschaftliche Studien der letzten 10 Jahre zeigen, dass zwischen 60 % und 90% der Patienten, die sich immer wieder selbst verletzen, Opfer von schwerer körperlicher Gewalt (u. a. auch von sexuellem Missbrauch) waren. Diese Gewalterfahrungen werden in einem unbewussten "Trauma- Gedächtnis" gespeichert und hinterlassen schwere seelische Wunden, die nur durch eine längere psychotherapeutische Behandlung geheilt werden können. Die Therapie ist allerdings sehr schwierig: Weil Borderline-Betroffene zwischenmenschliche Beziehungen nur kurze Zeit ertragen können, brechen sie den Kontakt zu anderen Menschen -auch zum Psychotherapeuten- oft nach kurzer Zeit wieder ab, obwohl sie zu denen gehören, die Hilfe besonders dringend benötigen. Heilung durch Psychotherapie. Wo finden Patienten, die an den Folgen von Gewalterfahrungen leiden, Hilfe? Eine in Großbritannien durchgeführte Studie, bei welcher 690 Psychotherapie-Patienten befragt wurden, zeigte, dass Trauma-Erfahrungen ein offenbar erstrangiger (vielleicht sogar der häufigste) Grund für die Inanspruchnahme von Psychotherapie sind (Andrews et al., Br. J. Psychiat. 175:141, 1999). Sexueller Missbrauch in der Kindheit spielte bei 65%, andere Trauma-Erfahrungen bei 35% der befragten Patienten eine Rolle. Die Mehrheit der Patienten fand erst nach Beginn der Therapie Zugang zu diesen Erinnerungen, die sich im späteren Verlauf dann jedoch als ganz überwiegend wahrscheinlich, in einem erheblichen Teil sogar als beweisbar erwiesen. In wenigen Einzelfällen kam es vor, dass sich vermeintliche Opfer an erlittene Traumata erinnerten, obwohl diese nachweislich nicht stattgefunden hatten. Zu einem solchen "false memory syndrome" kann es vor allem dann kommen, wenn Angehörige oder Bekannte (manchmal auch unqualifizierte Therapeuten) auf eine Person eindringen und etwas in sie "hineinfragen". Bei den meisten Menschen, die Gewalterfahrungen berichten, handelt es sich jedoch NICHT um ein "false memory syndrome". Eine Studie an 44 Patientinnen, welche sexuellen Missbrauch in der Kindheit erinnerten, fand sich keine erhöhte Suggestibilität im Vergleich zur Kontrollgruppe (Leavitt, Child Abuse Neglect 21:265,1997), was auf der Linie weiterer jüngerer Studien liegt, welche die Rolle des "false memory syndrome" als quantitativ eher wenig ins Gewicht fallend bewerten. Was sollen Patienten tun? Legt man die empirische Datenlage zugrunde (Zlotnik et al., J. Traum. Stress 10:425, 1997; Zamanian et al., Int. J. Group Psychother. 47:109, 1997; Kennerley, Br. J. Clin. Psychol. 35:325, 1996; Lanktree et al., Child Abuse Negl. 19:1145, 1995), dann sollten sich Patienten mit Trauma-Erfahrungen an eine/n Psychotherapeuten/in wenden. © Joachim Bauer |
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