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Die Alzheimer-Krankheit

Erst eine seelische Situation, dann eine neurobiologische Erkrankung

 

Eine neue Sicht. Eine neue, nicht nur auf die Gehirnbefunde eingeschränkte, sondern biografische Aspekte einbeziehende Sicht der Alzheimerkrankheit habe ich erstmals in einem 1994 im Schattauer-Verlag erschienenen Sachbuch gegeben ("Die Alzheimer-Krankheit", Schattauer Verlag Stuttgart). Vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Verständnisses medizinischer Gesundheit und ihrer Störungen lässt sich ein psycho- biologisches Modell der Alzheimer- Krankheit entwerfen. In den nachfolgenden Ausführungen zur Alzheimer- Krankheit werden gesicherte neuropathologische Befunde zur Synapsenpathologie in Beziehung gesetzt zu neuesten Erkenntnissen zur neuronalen Plastizität. Neuronale Aktivität, die sich als wichtige Voraussetzung für die Integrität synaptischer Strukturen erwiesen hat ("Use it or lose it", siehe dazu unten), hat Interaktionen des Individuums mit seiner Umwelt zur Voraussetzung. Nachfolgend werden Ergebnisse von biografischen Studien bei Alzheimer-Patienten dargestellt, die zeigen, dass später an Alzheimer erkrankte Personen, lange vor Auftreten erster beobachtbarer Symptome der Erkrankung, begonnen haben sich aus der aktiven Gestaltung ihrer persönlichen Umwelt zurückziehen. Studien anderer Forschergruppen stützen unsere Befunde. Aus den hier präsentierten Daten ergeben sich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen biografischer Entwicklung, Beziehungsgestaltung, neuronaler Aktivität, Schädigung synaptischer Strukturen und Krankheitsentstehung.

Was ist eine Demenz? Jenseits des 40. Lebensjahres auftretende, im Sinne eines Krankheitsprozesses einsetzende Beeinträchtigungen der abstrakten Denkfähigkeit und des Erinnerungsvermögens werden, wenn sie anhaltend und ausgeprägt sind, so dass sie den Betroffenen bei seinen sozialen Kontakten und beruflichen Aufgaben beeinträchtigen, als Demenzerkrankungen bezeichnet. Die Alzheimer-Krankheit ist derzeit in unseren Breiten die häufigste Demenzerkrankung (Übersichten siehe Bauer und Berger, 1993; Bauer, 1994). Von der Alzheimer-Krankheit zu unterscheiden sind andere Demenzerkrankungen, insbesondere die sogenannten vaskulären, also auf Schädigungen der Blutgefäße beruhenden Demenzen. Demenzkranke mit einer langjährigen Vorgeschichte von Bluthochdruck und /oder Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) leiden in der Reheln nicht an einer Alzheimer-Krankheit, sondern an einer vaskulären Demenz (die Demenz des früheren Politikers Herbert Wehner wurde z. B. in der Presse immer wieder fälschlich als Alzheimer-Krankheit bezeichnet, obwohl Herbert Wehner tatsächlich an einer vaskulären, durch seinen langjährigen Diabetes mellitus verursachten Demenz litt).

Klinisch werden Qualität und Schwere von Demenzsyndromen wie der Alzheimer-Erkrankung mit testbaren Beeinträchtigungen in definierten Bereichen beschrieben. Die wichtigsten dieser sog. "neuropsychologischen Teilleistungsbereiche", die bei der Alzheimer-Krankheit betroffen sind, sind Gedächtnisleistungen, die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck, die als Praxie bezeichnete Fähigkeit zur Planung und zum Vollzug von Handlungsfolgen und schließlich die als Gnosie bezeichnete Fähigkeit des Bedeutungserkennens, aus welcher sich die Auffassung und das allgemeine Verständnis gegenüber einer Situation ableiten.

Demenz: Verlust der Fähigkeit zur "Symbolisierung" der Welt. Auf einen gemeinsamen Begriff gebracht, geht es bei diesen neuropsychologischen Intelligenzleistungen um die Fähigkeit, sich über Vorgänge in der Welt kommunikativ zu verständigen, mit anderen eine "gemeinsame Wirklichkeit" zu konstruieren. Die Alzheimer-Krankheit bedeutet den Verlust der Fähigkeit zur "Symbolisierung". "Symbolisierung" meint die innere Repräsentation der Welt und die Fähigkeit zur inneren Vorstellung der in ihr ablaufenden zwischenmenschlichen Prozesse. Der klinische Kern der Alzheimer-Krankheit ist, wie nachfolgend dargelegt und anhand einer Kasuistik anschaulich gemacht werden wird, der Verlust der Symbolisierungsfähigkeit.

Neurobiologie der Alzheimer-Krankheit: Amyloid und Neurofibrillen. Nachdem Anfang des 20. Jahrhunderts die damals häufigste Demenzerkrankung, die durch die Syphilis verursachte Paralyse, auf die Infektion mit Spirochäten zurückgeführt war, und nachdem eine zweite Gruppe von Demenzerkrankungen, nämlich die vaskulären Demenzerkrankungen, durch strukturelle Veränderungen der Blutgefäße ausreichend erklärt zu sein schien, war es die Hoffnung, auch die Gruppe der sog. primär degenerativen Demenzerkrankungen (zu dieser Gruppe gehört auch die Alzheimer-Krankheit) mit infektiösen, strukturell-neuropathologischen oder biochemischen Veränderungen in Beziehung setzen zu können (Übersicht bei Bauer, 1994).

Eine Ursache der Alzheimer- Krankheit schien gefunden zu sein, als Anfang des 20. Jahrhunderts der Wiener Neuropathologe Emil Redlich als erster im Kortex, also in der Hirnrinde von Kranken kleine herdchenförmige Ablagerungen ("Drusen") beschrieben hatte, die heute als "Amyloidplaques" bezeichnet werden (Die Entdeckung dieser Plaques erfolgte also nicht, wie oft fälschlich behauptet wird, durch Aloys Alzheimer). Aloys Alzheimers Entdeckung betrifft Veränderungen innerhalb kortikaler Nervenzellen. Was Alzheimer, aufgrund einer von ihm verwendeten neuen Färbemethode von Hirnschnitten, in den Nervenzellen Demenzkranker erstmals nachweisen konnte, waren die die sogenannten Neurofibrillenbündel ("Neurofibrillary Tangles") (Alzheimer, 1911; Übersicht bei Bauer, 1994).

Zur Amyloidpathologie und neurofibrillären Degeneration stellte sich jedoch rasch die Frage der Spezifität, die bereits Alzheimer als den kritischen Punkt voll erkannte (Alzheimer, 1911). Es zeigte sich nämlich, dass insbesondere die Amyloidpathologie (also die Amyloid-Plaques) eine weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer Alzheimer´schen Demenzerkrankung ist. Nachdem Aloys Alzheimer auch in den Hirnen zahlreicher nicht dementer Verstorbener z. T. massive Amyloidbeladungen gefunden hatte, schrieb er 1911, "dass die Drusen (d. h., die Plaques) nicht die Ursache der senilen Demenz, sondern nur eine Begleiterscheinung der senilen Involution des zentralen Nervensystems sind" (Alzheimer, 1911; siehe auch Gellerstedt, 1932/1933 und Rothschild, 1936, 1937; Übersicht bei Bauer, 1994).

Genetisch bedingte Alzheimer- Formen: äußerst selten, epidemiologisch unbedeutend. Genetische Veränderungen an den Genen des Presenilin-1, des Presenilin- 2 und am Amyloidprekursorprotein- (APP-) Gen lassen sich nur bei maximal 2 % (zwei Prozent!) aller Alzheimer-Krankheitsfälle nachweisen und wurden in ihrer pathogenetischen bzw. epidemiologischen Bedeutung völlig überschätzt. Die Alzheimer- Krankheit ist in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle also keine erbliche Erkrankung, was für die Familien, besonders für die Nachkommen von großer Bedeutung ist. Auch dem Polymorphismus des Apolipoprotein E (ApoE-)- Gens kommt nicht die Bedeutung zu, welche ihm vorübergehend zugeschrieben wurde. Das Vorhandensein der genetischen ApoE-4- Variante ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Alzheimer- Krankheit und ist als diagnostischer Marker definitiv ungeeignet (Consensus Statement, JAMA 1995; 274:1627).

Synapsen-Untergang: Bester Marker der Alzheimer-Krankheit. Elektronenmikro-skopische Untersuchungen in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderst konnte zeigen, dass -im Vergleich zur Amyloidpathologie und zur neurofibrillären Degeneration- der Verlust von kortikalen Synapsen ein weitaus markanterer, spezifischerer und darüber hinaus ein mit dem Grad der Demenz aufs engste korrelierter Befund bei Alzheimer-Patienten ist (Terry, 1991; Übersicht bei Bauer, 1994 und Masliah, 1995). Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, an denen mittels Ausschüttung von Botenstoffen (sog. Neurotransmittern) der Nachrichtenaustausch zwischen den Nervenzellen stattfindet.

Zur Signalübertragung zwischen zwei Nervenzellen kommt es, wenn die präsynaptische Membran einer Nervenzelle Neurotransmitter- gefüllte Vesikel in den synaptischen Spalt ausschüttet, wenn die ausgeschütteten Transmitter- Moleküle dann an spezifische Rezeptoren der postsynaptischen Membran der Nachbarzelle binden und aufgrund dieser Bindung ein ("second messenger"-) Signal in der Zielzelle ausgelöst wird.

Neuronale Matri und kortikale Repräsentation der Umwelt. Jede der etwa 10 bis 20 Milliarden Nervenzellen der Hirnrinde steht über Synapsen mit jeweils bis zu 10.000 anderen Nervenzellen in Verbindung. Etwa 100.000 benachbarte Nervenzellen bilden zusammen jeweils eine funktionale Einheit als senkrecht zur Hirnoberfläche stehende Mikro-Säulen, sogenannte "Columns" (Duyckaerts, 1985; Eccles, 1992). In diesen Columns sind die Nervenzellen in spezifischer und besonders dichter Weise synaptisch verschaltet. Die Zufuhr spezifischer Erregungsmuster zu diesen Columns führt zu spezifischen Mustern von Erregungs-Output, d.h. die Columns kodieren Programme.

Nervenzell- Columns sind untereinander -wiederum durch Synapsen- komplex verbunden, so dass Assoziationen von neuronalen Programmen entstehen. Das daraus entstehende kortikale Netzwerk ist die Matrix, in welcher unsere sensorischen und motorischen Leistungen als Wahrnehmungs- und Handlungsprogramme gespeichert sind. Es werden Regeln gespeichert, nach denen die Welt interpretiert und nach denen angepasstes Verhalten entwickelt werden, d. h. eine passende Umwelt konstruiert werden kann. In dieser Matrix können wir uns selbst, unsere Umwelt und die in ihr ablaufenden Prozesse - semiotisch gesehen - konstruieren (psychologisch gesehen, bedeutet diese Matrix die Fähigkeit zur psychischen Repräsentation der Welt).

Neuronale Plastizität: Beziehungen zwischen Funktion und synaptischer Mikrostruktur ("Use it or lose it"). Synaptische Verbindungen zwischen den Nervenzellen der Hirnrinde sind keine festinstallierte Hardware. Synaptische Aktivität hat den Erhalt und die strukturelle Verstärkung der Synapse und der beiden an ihr beteiligten Nervenzellen zur Folge. Fehlende Aktivität kann zur strukturellen Auflösung der synaptischen Verbindung und sogar zur Schädigung der beteiligten Neurone führen. Zwischen den präsynaptischen Endigungen von Nervenzell-Ausläufern besteht ein ständiger, Aktivitäts-abhängiger Wettbewerb um gemeinsame postsynaptische Ziel-Neurone. Dieses Phänomen wird als neuronale Plastizität bezeichnet (Übersichten bei Merzenich, 1990; Swaab, 1991).

Neuronale Plastizität beruht auf einer Reihe von feed-forward- und feed-back- Prozessen, welche im Gefolge neuronaler Aktivität ausgelöst werden (Übersicht bei Bauer, 1994). Neuronale Signal-Aktivität, d.h. die Ausschüttung von Botenstoffen der präsynaptischen Nervenendigung in den synaptischen Spalt führt in beiden beteiligten Zellen zu Veränderungen der Proteinsynthese und zur Ausschüttung von Nervenwachstumsfaktoren. Auf die Zielzelle hochfrequent eintreffende Serien von ankommenden Signalen, auch als tetanische Reizung bezeichnet, führen nicht nur zu einer besonderen strukturellen Verstärkung der postsynaptischen Membran, sondern verändern auch die Ansprechbarkeit der Zielzelle in dem Sinne, dass sie für einen längeren nachfolgenden Zeitraum stärker erregbar bleibt. Diese sogenannte Langzeitpotenzierung (LTP) ist die Grundlage für die Kodierung von Signalen unterschiedlicher Wertigkeit und für die Gedächtnisbildung.

Psychosoziale Umwelt und neuronale Aktivität: "The social construction of the human brain". Ausgangspunkt für neuronale Aktivität und damit für die Bildung von Synapsen sind vom Beginn des Lebens an externe, aber auch selbst (im eigenen Körper) generierte Stimuli, die sich aus der Beziehung des Organismus mit seiner Umwelt ergeben. Dies beginnt bereits intrauterin im zweiten und im dritten Trimenon. Synaptogenese ist das Schlüsselereignis bei allen Lernprozessen. Zahlreiche tierexperimentelle Studien, neuerdings aber auch Beobachtungen am Menschen konnten zeigen, dass Stimulus-Mangel zu neuroanatomischen und neurofunktionalen Verlusten in der Hirnrinde führt, dass eine stimulus-angereicherte Umwelt dagegen eine vermehrte Zahl von Schaltneuronen, ein höheres Ausmaß der Verzweigung (Arborisation) ihrer Ausläufer und eine höhere Dichte synaptischer Verschaltungen zur Folge hat.

Torsten Wiesel fasste es 1994 im Magazin Science wie folgt zusammen "Genes controlling embryonic development shape the structure of the infant brain; the infant´s experience in the world then fine-tunes the pattern of neural connections underlying the brain´s function. Such fine-tuning must surely continue through adulthood" (Wiesel, 1994). Leon Eisenberg brachte es 1995 im American Journal of Psychiatry auf folgenden Nenner: "The basic ground plan is laid out in the genome, the precise neuroanatomic details are specified by activity-dependent competition between presynaptic axons for common postsynpatic targets. .... Species-typical environment, including the environment in the uterus, reliably supplies the input needed for the development of the CNS. .... The discovery that the brain is capable of extensive functional reorganization necessitates radical revision of traditional notions of anatomic fixity. ...The cytoarchitectonics of the cerebral cortex are sculptured by inputs from the social environment. .... Psychopathology arises at the interface between the brain and social experience. ... No less evident is the role of psychosocial factors in Alzheimer´s Disease." (Eisenberg, 1995). Eisenbergs Arbeit trug den Titel "The social construction of the human brain".

Das Biotop neuronaler Aktivität: Die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt. Soziale Umgebung ist das Biotop und die Voraussetzung, in welchem neuronale Aktivität möglich wird, sich entwickelt, erhalten bleibt oder abstirbt. Struktur und Funktion sind nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Nervensystem aufs engste verbunden. Neuronale Struktur und Funktion stehen in engstem Zusammenhang mit der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt. Die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt einerseits und neurobiologische Feinstrukturen andrerseits entwickeln sich gemeinsam und in permanenter wechselseitiger Beeinflussung. Während der intrauterinen und der kindliche Entwicklung nach der Geburt kommt es so zur Entwicklung des Seelischen, zur Entwicklung des Selbst und zur Entwicklung der Intelligenz. Auch nach Abschluss der Entwicklung bleibt die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt weiterhin von entscheidender Bedeutung sowohl für die neuronale Funktion und Struktur als auch für die seelische Gesundheit und den Erhalt der Intelligenz. Die Einheit des Überlebens von Organismus und Umwelt beruht auf der permanenten Konstruktions-Aktivität des Nervensystems.

Umkehrung der kindlichen Intelligenzentwicklung bei der Alzheimer- Krankheit. Eine im Jahre 1996 von einer amerikanischen Arbeitsgruppe um Matteson und Lichtenstein durchgeführte Untersuchung an Alzheimer-Patienten ergab, dass die intellektuellen Beeinträchtigungen bei der Alzheimer-Krankheit exakt entlang den von Piaget definierten Stufen der intellektuellen Entwicklung des Kindes verlaufen, allerdings in umgekehrter Richtung (Matteson, 1996). Bei über 50 Demenzpatienten wurde mit dem Mini- Mental- State- Test einerseits die Schwere der Demenz bestimmt, andrerseits wurden die gleichen Patienten mit Testinventaren untersucht, mit welchen sich die Entwicklungsstufen nach Piaget bestimmen lassen.

Alzheimer-Patienten mit beginnender Demenz entsprechend einem Mini-Mental- State- Wert von 23 Punkten zeigen testpsychologisch einen Verlust der Fähigkeit für hypothetische Strategien und für abstrakte gedankliche Operationen, wie sie für das nach dem 12. Lebensjahr erreichte Entwicklungsniveau für formale Operationen charakteristisch ist. Die Kompetenz solcher Alzheimer-Patienten im Frühstadium entspricht dem Niveau für konkrete Operationen, welches Piaget für die Phase zwischen 7. und 12. Lebensjahr beschrieben hat.

Ab einem Mini- Mental- State- Testwert von etwa 14 Punkten und weniger, also im mittleren Stadium der Demenz, entspricht die intellektuelle Kompetenz von Alzheimer-Patienten der sogenannten präoperationalen Phase, die Piaget zwischen dem 2. und 7. Lebensjahr ansiedelt. Bei einem Mini- Mental- State- Wert von 2 Punkten und weniger haben die Patienten das sogenannte sensomotorische Anpassungsniveau der ersten beiden Lebensjahre erreicht.

Inhalts-Analyse von Alzheimer-Biografien: Typische Beziehungsmuster im Vorstadium der Erkrankung. Wir haben biografische Anamnesen von Alzheimer-Patienten untersucht (Bauer, 1995, 1997, 1998) Wir haben uns dabei in jedem einzelnen Fall Biografie und Beziehungsgeschichte nicht nur vom Patienten selbst schildern lassen, sondern uns - mit Wissen und Billigung des Patienten - von jeweils mindestens zwei Angehörigen deren Beziehung zum Patienten sowie deren Sicht der Beziehungen des Patienten zu Dritten schildern lassen. Die biografischen Anamnesen wurden nach den Methoden der komparativen Kasuistik einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen (zur Methodik siehe Jüttemann, 1990; Flick, 1991; Mayring, 1993; Brähler, 1996). Einige Patienten im Frühstadium der Alzheimer-Krankheit erhielten außerdem über einen längeren Zeitraum eine psychotherapeutische Begleitung (Bauer, 1997).

Die qualitative Inhaltsanalyse der von uns in einer Studie untersuchten Alzheimer- Biografien zeigte ein frappierend einheitliches Muster bei der Gestaltung der Partnerschaftsbeziehungen der später an Alzheimer erkrankten Personen (Bauer, 1995, 1998). Die später Erkrankten wurden konsistent als warmherzig, meist heiter beschrieben. Sie wurden als mitfühlend, anteilnehmend und weich geschildert, dabei aber auch als wenig couragiert und unfähig, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Zu gemeinsamen Kindern hatten die später Erkrankten im Vergleich zum Partner meist die emotional bessere Beziehung. Entscheidungsfindungen und Problemlöse-Aufgaben im Alltag seien dagegen vorzugsweise dem Partner oder anderen Bezugspersonen überlassen worden. Die Schilderungen erzeugten den Eindruck, dass später an Alzheimer Erkrankte -semiotisch betrachtet- über eine stark entwickelte ikonische Fühlwelt, jedoch über wenig indexikalische strategisch-pragmatische Kompetenz verfügen.

Die später Erkrankten scheinen sich in ihrem sozialen Umfeld in hohem Maße von der Gestaltung ihrer subjektiven Umwelt, von der Mitwirkung an der Konstruktion einer gemeinsamen kommunikativen Wirklichkeit zurückgezogen zu haben. Die Definitionsmacht (ihr Fehlen wurde von Barbara Hanson als "definitional deficit" bezeichnet; Hanson, 1989) scheint in weitem Umfang an Bezugspersonen, in der Regel an den Partner abgegeben worden zu sein. "... it is in families in which a member is excluded from the process of reality construction that symptoms of senile dementia, or other pathologies, will be promoted" (Hanson, 1989). In vielen Fällen wurde der Status der später Erkrankten innerhalb ihrer Familie von Angehörigen außerhalb der Familie als quasi entmündigt beschrieben, obwohl noch keinerlei Anzeichen für eine bereits vorhandene Demenzsymptomatik vorhanden waren.

Übereinstimmung mit biografischen Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen: Kropiunigg, Kondo, Friedland und Rothschild´s frühe Studien. Dominanz des Partners in der prämorbiden Vorgeschichte war auch der Befund einer von der Arbeitsgruppe Ulrich Kropiunigg aus Wien durchgeführten Untersuchung an 50 Alzheimer-Patienten (Kropiunigg, 1999 a und b). Professor Kropiunigg errechnete in seiner 1999 publizierten Untersuchung, dass Dominanz der Partners das Risiko für die Erkrankung im Vergleich zu einem Kontroll-Kollektiv um das 2,6-fache erhöhte.

Mit sehr aufwendigen quantitativen Methoden durchgeführte Studien einer japanischen Arbeitsgruppe um Kondo (Kondo, 1994) und einer amerikanischen Gruppe um Friedland (Friedland, 1996/1997) ergaben, dass später an Alzheimer erkrankte Personen über einen langen Zeitraum vor Einsetzen erster Symptome ein - gegenüber Kontrollpersonen - hochsignifikant vermindertes Maß an psychosozialer Aktivität zeigen Diese Befunde entsprechen voll den Beobachtungen unserer Studie.

Der biografische Ansatz bei der Untersuchung der Alzheimer- Krankheit hat einen frühen Vorläufer, der heute in Vergessenheit geraten ist und daher an dieser Stelle Erwähnung finden soll. David Rothschild, der in Harvard tätig war und bereist in den 30er Jahren Beiträge zur fehlenden Spezifität neuropathologischer Veränderungen bei der Alzheimer-Krankheit publiziert hatte (Rothschild, 1936, 1937), beschäftigte sich in den 40er und 50er Jahren mit der prämorbiden psychologischen Situation von Alzheimer- Krankheiten und beschrieb bei seinen Patienten den Befund eines "loss of outside support upon which they were dependent" (Sands und Rothschild, 1952, p. 236).

Frühe Entwicklungslinien bei Alzheimer-Krankheit: Die "Nonnen-Studie". Die in den Partnerschaften von später an Alzheimer-Krankheit erkrankten Patienten beschriebene Tendenz, sich aus der Problemlöse-Arbeit des Alltags (semiotisch gesprochen: aus der Wirklichkeitskonstruktion) zurückzuziehen, scheint eine bereits früh im Leben der später Erkrankten beobachtbare Entwicklungslinie zu sein. Eine amerikanische Arbeitsgruppe um David Snowdon und William Markesbery hatte die Möglichkeit, in einem amerikanischen Kloster 93 im Ruhestand befindliche Nonnen zwischen 75 und 96 Jahren auf Demenz zu testen. Die Untersucher setzten die Ergebnisse ihrer quantitativen Demenztests in Beziehung zu schriftlichen Aufsätzen, welche die Frauen ca. 60 Jahre zuvor als Novizinnen beim Eintritt ins Kloster hatten schreiben müssen (Snowdon, 1996).

Die mit Linguisten vorgenommene sprachanalytische Untersuchung der Aufsätze ergab, dass die im Alter an Demenz erkrankten Nonnen bereits als durchschnittlich 22-Jährige signifikant weniger ideenreiche und sprachlich weniger komplexe Aufsätze geschrieben hatten (Snowdon, 1996). Die Ergebnisse dieser 1996 publizierten "Nonnen-Studie" könnten ein Hinweis darauf sein, dass sich die Disposition zur Entwicklung einer Alzheimer-Krankheit bereits in der Kindheit und Jugend ausbildet.

Störungen der Selbstidentität bei Alzheimer-Patienten. Die später Erkrankten wurden als Persönlichkeiten beschrieben, denen eine fröhlich-harmonische Atmosphäre sehr wichtig gewesen sei. Offene Konflikte seien von den später Erkrankten als angstauslösend, depressionserzeugend und verwirrend erlebt worden. Nachgiebigkeit sowie Verleugnungs- und Besänftigungsstrategien scheinen für die später Erkrankten einen absoluten Vorrang vor einer Herbeiführung einer Klärung beim Vorliegen von Meinungsverschiedenheiten gehabt zu haben. Dominanz und Führung durch die Partner einerseits, Anpassung und Selbstverleugnung der später Erkrankten andrerseits wurde in vielen Biografien als derart ausgeprägt beschrieben, dass sich der Eindruck ergab, die Partner seien für viele der später Erkrankten zu Selbstobjekten, also zu externen Trägern des eigenen Selbstgefühls und der eigenen Vollkommenheit geworden (Bauer, 1994 b). In Übereinstimmung mit dieser Annahme fand Kropiunigg aus Wien Hinweise auf ein, wie er es nannte, "ephemer- fragiles Selbst" in der prämorbiden Persönlichkeit seiner 50 untersuchten Alzheimer-Patienten (Kropiunigg, 1999).

Psychotherapie bei Alzheimer- Kranken im Frühstadium. Auch nach Einsetzen der Erkrankungssymptome zeigt die Beziehungsgestaltung von Alzheimer-Patienten Besonderheiten, die sich u. a. auch an der Beziehung ablesen liessen, welche sich während der psychotherapeutischen Begleitung einzelner Patienten entwickelte. Zu den Patienten stellte sich rasch ein liebenswürdiger und warmherziger wechselseitiger Kontakt her. Die Patienten führten sich gegenüber dem Therapeuten eher als inkompetenter und hilfsbedürftiger ein als sie tatsächlich waren. Sie reagieren allerdings dankbar und erleichtert, wenn das gegenüber dem Therapeuten ausgedrückte Beziehungsangebot, sie als kommunikativ inkompetent und als nicht ernst zu nehmen zu behandeln, vom Therapeuten so nicht angenommen wurde.

Aus den von den Patienten in den Gesprächen entwickelten Themen wurde deutlich, dass sie eine Ambivalenz gegenüber ihren Bezugspersonen erleben. Vor allem zu Beginn der Gespräche brachten die Patienten, mit Blick auf ihre Hauptbezugsperson, ein erheblichen Maß von Frustration über ihre Inferiorität und über die Nichtbeachtung ihrer Wünsche zum Ausdruck. Andrerseits wurde rasch deutlich, welche Angst und Konfusion für die Patienten mit dem Austragen eines Konfliktes verbunden ist. Es war wiederholt beobachtbar, dass bereits die Thematisierung eines möglichen Konfliktes in der Gesprächssituation akut dazu führte, dass die Patienten nicht weiterdenken oder sich plötzlich nicht mehr erinnern konnten. Vorherrschende innerpsychische Abwehrmechanismen der Patienten sind zum einen die Verleugnung, des weiteren die Wendung der Aggression gegen das Selbst, weiterhin das Verschwinden in eine Art dissoziative Abwesenheit, und - last but not least - das Vergessen.

Die Validierung der Patienten und die dadurch erfolgte Wiederherstellung des kommunikativen Realitätsprinzips durch den Therapeuten führt leicht zu mehr oder weniger offenen Spannungen mit Bezugspersonen, welche im Rahmen ihrer Beziehungsgeschichte mit dem Patienten meist seit längerem dazu übergegangen waren, Äußerungen der dann Erkrankten unter einen Generalvorbehalt zu stellen. Angesichts der eingespielten Abwertung der Erkrankten, auf der die Bezugspersonen oft ärgerlich bestehen, wurde oft ein erhebliches pathogenes Potential seitens der Partner spürbar. Ein möglicherweise lohnender Ansatz könnte aus diesem Grunde ein Versuch von systemisch orientierten Paargesprächen mit Alzheimer-Kranken und deren Partnern sein.

Auslösende Situation und Einsetzen erster Demenzsymptome. In den von uns untersuchten Biografien hatte die langjährige Beziehungsgestaltung vor Einsetzen erster Erkrankungssymptome ein erhebliches Ausmaß an alltagspraktischer Abhängigkeit der später Erkrankten von ihrem Partner zur Folge. Diese Situation kann offenbar jedoch über sehr lange Zeiträume, vielleicht lebenslang kompensiert bleiben. Relativ kurze Zeit, etwa ½ bis 2 Jahre vor Beginn erster klinischer Zeichen der Demenz fand sich bei allen Erkrankten ein schweres Belastungsereignis. Bei den meisten später Erkrankten kam es entweder zu einem Wegfall des Partners, z. B. durch Tod, oder - wie in der Mehrheit der von uns untersuchten Fälle - zu einer Zuspitzung der Partnerschaftsproblematik mit einem schweren Konflikt, der eine nicht beherrschbare Stress-Situation und einen Wegfall der bislang vorhandenen Unterstützung bedeutete. Oft hatten sich parallel auch interpersonelle Probleme am Arbeitsplatz zugespitzt.

Die später Erkrankten waren durch diese Belastungsereignisse in eine von ihnen als ausweglos erlebte Situation geraten. In dieser Situation wurde eine resignative Reaktion der kurze Zeit später Erkrankten beschrieben. Es scheint dabei zu einem schlagartigen Rückzug aus der -ohnehin nicht stark entwickelten- Beteiligung an kommunikativer Wirklichkeitskonstruktion gekommen zu sein. Dies dürfte -vor dem Hintergrund der geschilderten psychobiologischen Zusammenhang zwischen psychosozialer Aktivität, neuronaler Funktion und Struktur- von einem Rückgang der bereits vorher reduzierten neuronalen Aktivität begleitet sein und könnte den Startpunkt eines dann irreversiblen degenerativen Prozesses mit Synapsenverlust und neuronaler Schädigung markieren.

Zusammenfassung. Zusammenfassend sprechen die Ergebnisse der Studien verschiedener Arbeitsgruppen, die Befunde unserer eigenen biografischen Untersuchungen und die Beobachtungen aus den durchgeführten Behandlungen von Patienten dafür, dass später an Alzheimer erkrankte Personen bereits früh im Leben in ihrer seelischen (Selbst-) Entwicklung geschwächt wurden. Die Selbstidentität konnte sich nur schwach entwickeln, es entwickelte sich eine Tendenz zur Überanpassung. Es konnte kein markantes Gefühl der eigenen Identität entstehen. Die Patienten sind hinsichtlich ihrer autonomen Problemlösungskompetenz und ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung beeinträchtigt. Neurobiologisch scheint dies mit einer Schwächung der synaptischen Vernetzung im Kortex und schließlich mit dem Eintritt in die Krankheit einherzugehen.

Die später Erkrankten entwickeln einen durch Konfliktvermeidung, durch Delegation schwieriger Entscheidungen an Andere und durch psychosoziale Inaktivität charakterisierten Lebensstil. Möglicherweise als Kompensation suchen sie sich pragmatisch hochkompetente Partner, von denen sie jedoch zunehmend abhängig werden. Schwere Störungen der Kommunikation und aufbrechende Konflikte im späteren Verlauf der Beziehung führen zu einem Zusammenbruch des bis dahin kompensierten Zustandes, zur Resignation, zur Regression und zum Einsetzen der Demenzerkrankung.

© Joachim Bauer

 

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© Joachim Bauer

 

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